Hörst du auf zu Bluten - Die ganz harten Tage

Hörst du auf zu Bluten – Die ganz harten Tage

Der Tag war fast geschafft, es war 16:40 Uhr, in gut 3 Stunden wäre Feierabend. Der für heute letzte Einsatz holte uns vom Sofa, im Display stand, dass es ein Transport in eine Psychiatrie sei, die man in ca. 80 Minuten erreicht. Die Polizei sei schon am Einsatzort und wir müssten nur noch einen elf-jährigen schizophrenen Jungen transportieren, teilte uns der Leistellendisponent über Funk mit.

Einen elf-jährigen Jungen in eine Psychiatrie bringen ist nicht wirklich das Schönste was es gibt. Wenn ein so junger Mensch schon jetzt Probleme hat, werden die Eltern bestimmt sehr aufgelöst sein.

Am Einsatzort angekommen war die Polizei, wie von der Leitstelle gesagt, schon vor Ort und wir befanden uns vor einem Häuserblock, das Klingelschild der Hauses ließ uns wissen, dass hier ca. 20 Wohnungen waren. Wir mussten in den 2. Stock, ein Polizist empfing uns auf der Treppe und teilte uns mit, dass jetzt auch der Notarzt alarmiert wurde, um den Jungen ruhig zu stellen.

In der Wohnung angekommen wurden meine Reize überflutet. Es saß ein 11-jähriger Junge brüllend und schreiend in Hand und Fußfesseln auf einem Stuhl. Er flehte seine Eltern an, dass er von zu Hause nicht weg möchte. Ja, ihr habt richtig gelesen, der Junge saß tatsächlich in Handschellen vor uns. Es war eine kombinierte Hand- und Fußfessel wie man sie aus US-Filmen kennt, ein Fuß war allerdings frei. Die Polizei meinte, er sei akut gefährdet, sie hätten ihn gerade daran gehindert vom Balkon zu springen. In der ganzen Wohnung waren alle Türen notdürftig mit Papier wieder schön gemacht, denn der Junge hatte die Türen im unteren Bereich ganz schön bearbeitet.
Die Situation war sehr bizarr und jeder probierte auf den Jungen einzureden. Die Eltern versuchten es permanent und der Vater war schon komplett fertig mit den Nerven. Die Polizei hielt sich heraus und mein Kollege, der bereits 2 Kinder groß gezogen hat, probierte zu dem jungen eine Verbindung herzustellen, was ihm ziemlich gut gelang.

Der Notarzt traf ein und wir informierten ihn schon vor der Wohnung über die Situation, seine sofortige Reaktion hatten wir uns schon denken können, denn er wollten den Jungen nicht ruhig stellen. Wer weiß wie er darauf reagiert, nicht dass wir ihn dann noch in eine Kinderklinik fahren müssen, da er anders auf die Medikament reagieren könnte, zudem war er kein Kinderarzt der sich damit gut auskennen würde. Punktum, er stellte den Jungen nicht ruhig, war aber dennoch in einer höheren Position als wir.
Hier fingen die Probleme dann an, denn als wir alle oben in der Wohnung waren war die Situation kurz davor zu explodieren: Der Notarzt wollte den Jungen zu Recht nicht ruhig stellen, mein Kollege weigert sich einen so extrem schreienden und unkontrollierbaren Jungen zu fahren. Die Eltern hatten sich jetzt wieder umentschieden und wollten den Jungen behalten und die Polizei wiederum meinte, er stelle eine Akute eigene Gefährdung dar und der Junge könne nicht zu Hause bei den Eltern bleiben. Es passte also gar nichts ineinander und der arme Junge saß komplett zwischen den Stühlen und alles um ihn herum wurde immer lauter und streitete sich. Die Mutter fing an den Polizisten die Schuld zu geben, dass sie den Notarzt alarmiert hätten, der Arzt meckerte mit den Polizisten und so weiter und so fort. Da ich in dieser Situation eh kaum etwas zu sagen habe, habe ich mich zurückgezogen und alles erst einmal verarbeiten müssen. Den Jungen hat man außerhalb der Wohnung noch schreien hören. In einer ruhigen Minute teilte mir der Vater weinend mit, wie sich sein Kind in den letzten Tagen und Stunden verhalten hatte. Er redetet sich Kummer und Sorge von der Seele, ich fing es alles so gut ich konnte auf. Am liebsten hätte ich ihn in den Arm genommen und getröstet. Man merkte wie es ihm mit jedem Satz, den er sprach, ein kleines bisschen besser ging, bis seine Frau uns störte und meinte, dass es doch eh alles nichts bringt wenn wir davon wissen. Er hört daraufhin leider auf zu Erzählen und lief jetzt wieder weinend zu seinem Kind – der Tag machte mich fertig.

Nachdem ich die Situation ein bisschen verarbeitet hatte, gelang es meinem Kollegen den Jungen positiv zu stimmen, allerdings ging das immer nur für kurze Zeit, denn der Junge hatte zwei Gesichter, das eine war das Wilde, wo er nur schrie, mit dem anderen konnte man sich klar und deutlich unterhalten, leider immer nur für ein paar Sekunden. Der Junge hatte laut den Eltern die letzten Wochen immer nur ganz wenig gegessen und getrunken und so versuchte der Junge in seinen „hellen“ Phasen alles dafür zu tun, dass er nicht mit musste. Er aß und trank sehr viel, aber es nütze nicht, die Polizei wies ihn mit dem sogenannten §10 ein, da er eine Gefährdung für sich selbst oder Andere darstellte. § 10 Einweisungen können nur von der Polizei veranlasst werden, zum Beispiel wenn sich jemand das Leben nehmen will, dann aber nicht mit in das Krankenhaus kommen möchte. Das heißt, er wird gezwungen mitzugehen, diese Transporte werden auch immer von der Polizei begleitet.

Anscheinend hat dem Jungen das Essen gut getan und so löste sich die sehr angespannte Situation wieder, der Notarzt musste nichts unternehmen und wir entschieden uns den Transport nicht abzulehnen, aber uns blieb sowieso keine andere Wahl.
Irgendeiner aus der Runde kam auf die Idee dem Kind doch die Handschellen weg zu nehmen, damit das vor den vielen Nachbarn nicht ganz so heftig aussieht. Alle stimmten ein und so saß auf einmal die Mutter vor dem Kind und löste die Handschellen. Naja, komisch das es nicht die Polizisten machen, aber die Mutter hat schließlich das bessere Verhältnis zum Jungen als die Polizisten. Als die Mutter dann mit den Handschellen in ihr Schlafzimmer lief, schauten wir uns alle nur ganz schief an und keiner brachte ein Wort heraus. Der Junge hatte die Fesseln wohl schon an, bevor die Polizei da war. Dank meines Kollegen hatte sich der kleine Kerl super beruhigt und so konnten wir ihn ohne große Probleme in die Kinderpsychiatrie bringen.

Dort angekommen berichtete die Polizei und wir der Psychologin von dem Geschehen vor Ort. Sie hatte darauf nur mit Kopfschüttelnd reagiert und gemeint, dass sie wohl eine Anzeige gegen die Mutter schreiben würde. Zudem hätte der Junge schon viel früher Therapeutisch behandelt werden müssen, dann wäre es vielleicht nicht so schlimm geworden. Wir verabschiedeten uns und fuhren schnell Richtung Heimat, denn der Feierabend stand vor der Tür, es war 19:30 Uhr und wir mussten noch ca. 80 Minuten fahren. Verdammt, doch noch Überstunden geschoben.

Der Tag war von meiner Seite aus das bis jetzt Heftigste was ich Psychisch aushalten musste, denn am Morgen mussten wir vergeblich einen 56 jährigen Mann reanimieren, der komplett aus dem Leben gerissen worden war. Er hatte 2 Kinder und war anscheinend an einem Herzinfarkt gestorben und wollte am Tag zuvor nicht zum Arzt, da sein Hausarzt im Urlaub war. Er hätte noch leben können, wäre er zum Arzt gegangen. Mein Beileid an die Hinterbliebenen.